Was bedeutet Warenwirtschaft eigentlich genau: Welche Arbeitsbereiche werden darunter im Unternehmen verstanden?

Segatz: Warenwirtschaft ist der Dreiklang aus Materialbestand, Materialbewegung und IT. Im Detail geht es um das Bestandsmanagement und ein intelligentes Optimieren von Warenbeständen. Dies heißt die Analyse der Sortimentbreite  bzw. –tiefe und die Umschlaghäufigkeit durch ABC- und XYZ-Analysen. Dadurch sollen Bedarfsprognosen entwickelt werden auf deren Basis gewinnoptimierende Vorentscheidungen im Hinblick auf die Listung und Bestandsführung getroffen werden. Gleichzeitig werden dabei Warenstromflüsse  unter Berücksichtigung der Randbedingungen optimiert und die Supply Chain Konzepte angepasst.

Lampey: Bei der Warenwirtschaft geht es allerdings nicht nur um die optimale  Wiederbeschaffung von Beständen. Wie dieser Bestand intern gelagert, transportiert und entnommen wird, sind dabei die Kernfragen. Sie entscheiden über die Auswahl von Regalsystemen, Picking-Lösungen und Flurförderfahrzeugen bzw. –technik. Klar im Fokus: Prozessschritte und sicherheitsrelevante Aspekte.

„Warenwirtschaft ist der Dreiklang aus Materialbestand, Materialbewegung und IT.“

Segatz: Zu guter Letzt: Im optimalen Fall werden diese Prozesse digital gesteuert. Dazu müssen die passenden IT-Systeme ausgewählt, Pflichtenhefte definiert bzw. die vorhandenen Systeme optimal genutzt werden.

Lampey: Warenwirtschaft ist quasi der Kreislauf, der maßgeblich über den Erfolg von Handels- und produzierenden Unternehmen entscheidet. Insbesondere in Zeiten, in denen Unternehmen so effizient wie möglich arbeiten müssen, um alle Aufträge auch rechtzeitig abarbeiten zu können.

An welchen Kennzahlen können Unternehmen erkennen, ob sie Verbesserungspotenzial in ihrer Warenwirtschaft haben?

Segatz: Es sind nicht unbedingt nur Kennzahlen, die aus der Logistik kommen, sondern die Signale entstehen oft auch in anderen Fachbereichen: So sollten Unternehmen genau hinschauen, wenn der Kundenservice stark belastet ist, weil es zu eigenen Lieferverzögerungen kommt. Die Krankheitsstatistik der Mitarbeiter in der Logistik und die Unfallstatistik liefern ebenfalls wertvolle Hinweise. Dies hat zusätzlich Auswirkungen auf die Beiträge zur Berufsgenossenschaft. Ein weiterer Indikator ist die Liquiditätsentwicklung eines Unternehmens, auf die ggf. unnötig gelagerte Warenbestände einen direkten Einfluss haben.

„Krankheitsstatistik der Logistikmitarbeiter und Unfallstatistik liefern wertvolle Hinweise, ob es Probleme gibt.“

Lampey: Ohne auf die Vielzahl von warenwirtschaftlichen Kennziffern eingehen zu wollen: optische „Enge“ oder „Leere“ in logistischen Bereichen, Auslastung von Lagerkapazitäten von über 85 Prozent sowie eine durchschnittliche Lagerreichweiten von über acht Wochen sind nur einige sehr leicht nachvollziehbare Indikatoren, an denen sich Unternehmen orientieren können. Zur Beurteilung, ob Unternehmen Handlungsbedarf haben, empfehle ich, einmal die Summe aller Abschreibungen und Inventurdifferenzen in Höhe, Zeitverlauf und Struktur anzuschauen – diese sollte sich in den letzten 10 Jahren in Anbetracht des Standes von Technik und Arbeitsmethoden deutlich positiv entwickelt haben. Keine oder eine schleichende negative Entwicklung ist ein deutliches Indiz, dass Mitarbeiter – auch mit bester Motivation und Intention – mit sehr hohem unproduktivem Einsatz darum bemüht sind, die Lage im Griff zu halten.

Was sind für Unternehmen die größten Hürden, um Verbesserungspotenziale in der Warenwirtschaft umzusetzen?

Segatz: Oftmals wird Warenwirtschaft eben nicht aus einer 360 Grad Sicht betrachtet, sondern auf die lagerbetreibende Abteilung reduziert. Der Prozess dahinter wird nicht analysiert. Das hat natürlich auch mit den Organisationsstrukturen in Unternehmen zu tun. Wenn in Unternehmen ein Silodenken vorherrscht, dass an Abteilungsgrenzen endet, ist eine effiziente Warenwirtschaft schwierig umzusetzen.

„Warenwirtschaft mit aus einer 360 Grad Sicht betrachtet werden.“

Lampey: Wichtig ist auch, dass Unternehmen zu Investitionen bereit sein müssen.  Mit einer veralteten IT-Struktur und zum Beispiel analogen Regalen werden Unternehmen keine moderne Warenwirtschaft betreiben können. Umgekehrt können Optimierungen der Aufbau- und Ablaufstrukturen aber auch Ausbringungssteigerungen ermöglichen, die erheblich höhere Investitionen in Neu- oder Erweiterungsbauten zu vermeiden helfen.

Was sind Ansatzpunkte, wie Unternehmen ihre Warenwirtschaft verbessern können?

Segatz: Ansatzpunkte gibt es viele. Und in den meisten Unternehmen werden diese auch schrittweise bearbeitet, häufig allerdings in zu wenig aufeinander abgestimmter Form. Das Verhandeln von Logistikkonditionen, die Optimierung der Warendisposition, eine ans Volumen angepasste Lagerstruktur, der Einsatz von Scannern und mobilen Datenerfassungsgeräten, die Weiterentwicklung von IT-Systeme und spezialisierte Flurförderfahrzeuge, um Mitarbeiter möglichst effizient zu unterstützen, sind wahrscheinlich in allen Unternehmen Themen, die in einem integralen Konzept zusammengeführt werden müssen

„Einzelne Aktivitäten müssen in ein integrales System zusammengeführt werden.“

Welches IT-Umfeld sollten Unternehmen haben, um die eigene Warenwirtschaft möglichst effektiv zu managen?

Lampey: Es gibt kaum bestehende IT-Systeme, die bedarfsgerecht  zukünftig notwendige Prozesse abdecken. Es muss im Einzelfall entschieden werden, ob die Weiterentwicklung eines bestehenden Systems oder der Zukauf von Komponenten sinnvoll ist. Eine allgemeine Empfehlung ist das Kombinieren von modularen Systemkomponenten, wobei zwingend Standard-Schnittstellen zum Datenaustausch vorliegen müssen. Vom Aufbau eines individuellen „Supersystems“  ist abzuraten, da die Entwicklung so lange dauern würde, dass es beim Launch schon wieder überholt sein und zudem eine echte Release-Fähigkeit kaum erreicht werden kann.

Im Zuge der Digitalisierung: Welche Entwicklungen sollten Unternehmen auf keinen Fall verpassen?

Segatz: Scanner-Technologie im Warenein- und ausgang, mobile Datenerfassungsgeräte, algorithmische Auftragsvergabe für Transport, Nachschub und Picking-Aufträge, „In-Time“-Bestandkorrekturen über WLAN-Datenaustausch sind Entwicklungen, die zwischenzeitlich zum Standard einer modernen Warenwirtschaft gehören. Dazu kommen verschiedenste individualisierte Flurförderlösungen von der elektrischen Unterstützung traditioneller Geräte bis hin zu voll automatisierten und personenlosen Läger mit integrierter Fördertechnik.

Lampey: Die nächsten Entwicklungsschritte zielen eher auf die IT ab: Unter dem Begriff „Industrie 4.0“ werden zukünftig „Super – Datenspeicher“ in der Cloud den Zugriff verschiedenster Systeme auf einen Datenpool ermöglichen und reduzieren die Schnittstellenproblematiken – nicht nur zwischen eigenen Anwendungen, sondern auch zwischen Geschäftspartnern. Daraus werden sich erhebliche – manche Fachleute sprechen von „revolutionäre“ – Potenziale zur Vereinfachung vieler Prozesse ergeben. Deutlich ändern wird sich auch die Schnittstelle Maschine-Mensch. Klassische und fahrerlose Transportsysteme werden sich in ganz neuer Weise ergänzen und vernetzen.